Laufen in Tongling (4)

In China gibt es nicht viele Hunde. Man findet sie eher im Restaurant auf dem Teller, denn beim Gassi gehen auf der Straße. Einer der Vorteile von China ist, dass das Risiko, in das Resultat einer hundlichen Verdauung zu treten verschwindend gering ist. Größer ist da schon die Gefahr, auf Babysch... auszurutschen, indem sich viele Eltern keine teuren Windeln leisten können und der Strampelanzug im Schritt praktischer Weise einen Reißverschluss hat, der kurzerhand aufgezogen wird, damit sich das Baby seiner Last erleichtern kann. Bezüglich des Ortes sind weder das Baby noch die Mutter oder der Vater sonderlich wählerisch.

Ach ja – zurück zu den Hunden:
Läufer kennen das Phänomen: Je kleiner der Kläffer, desto stärker ist in der Regel seine Profilneurose. Mit anderen Worten: Desto lauter muss er seine Umgebung auf sich aufmerksam machen. Das Hundchen, welches sich mir verängstigt in den Weg stellte, hatte kugelrunde Augen. Für die eher schlitzäugigen Chinesen ist dies das Schönheitsideal schlechthin (man betrachte nur die möglichst rundäugigen Fotomodelle auf den häusergroßen Werbeplakaten!). Mich faszinierte dabei allerdings weniger das Vorhandensein der kugelrunden Augen des kleinen Köters als viel mehr das, was nicht vorhanden war: Hundegebell.
Der Kleine betrachtete mich eindeutig verschüchtert - vermutlich bin ich der erste Läufer, dem er in seinem Hundeleben begegnet ist und dann auch noch ein Lao Wai! -, aber er bellte nicht. Er strafte mich mit Schweigen ab. Mir kam das alles sehr unnatürlich vor.

Nach der Umrundung des Vierbeiners schlug ich mich nach links auf den Pfad des langen Laufes, der über mehrere kleine Brücken führte, die steil und in Halbkugelform die Kanäle überbrückten. Linker Hand befand sich eine Art Tempel auf einer kleinen Insel, dessen Würde allein dadurch etwas abgemildert wurde, dass sich am angrenzenden Hafen dicht an dicht bunte Tretboote für die Parkbesucher reihten. Am Ende des Pfades gelangte ich zu einem größeren Platz voller Menschen, die mich anstarrten, als hätten sie noch nie einen Lao Wai gesehen.

Ich war nun bereit, den ganz großen, den absolut unverzeihlichen Fauxpas zu begehen:
Gelassen zückte ich ein Taschentuch und putzte mir die Nase. Um nicht missverstanden zu werden:
Das tat ich nicht aus Langeweile sondern weil meine Nase lief und ich dringend etwas dagegen tun musste. Hier also rannte er vorbei: Der Lao Wai, der mit unchinesisch flottem Laufstil und einem Grinsen im Gesicht in ein Papiertaschentuch schnüffelte und von einer Armee aus Zombies umgeben war, die vor Entsetzen reglos erstarrt waren. Ich musste mir selbst erst über meinen Fehler klar werden, aber ich werde selbstverständlich versuchen, ihn zu erklären » weiter…

 

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